Geschichte (fast) live erleben

von Marvin Pögelt

Distanzunterricht, Homeoffice, Wechselunterricht. Wir können es nach weit über einem Jahr Pandemie sicher alle nicht mehr hören! Doch was hat diese Zeit im Positiven bewirkt? Gibt es Aspekte, die wir uns bewahren sollten und Erkenntnisse, die es ohne die Pandemie so vielleicht nie gegeben hätte? Ein optimistischer Exkurs in den Geschichtsunterricht.

Freitagmorgen. Stundenklingeln. Geschichte steht auf dem Plan. Thema: DDR-Machtapparat Stasi. Die Bücher werden aufgeschlagen und die Hausaufgabe von der letzten Stunde wird … Ach nein, falscher Plot! Wir befinden uns ja im Homeoffice: Alle sitzen vor ihren Computern, auch das WLAN des Letzten konnte sich noch zu einer Verbindung durchringen und es kann losgehen. Doch etwas ist anders: Zu Gast ist ein Zeitzeuge, der uns erzählen wird, wie er in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) der ehemaligen DDR geriet. So hören wir einen Zeitzeugenbericht trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Homeoffice …

Der Zeitzeuge ist ein Verwandter von mir. Wir haben schon oft über seine Erlebnisse gesprochen. NVA-Zeit, West-Verwandtschaft und -Pakete, die Wende und natürlich auch die Stasi – alles bewegende Themen einer bewegten Zeit, die ich mal so nebenbei als hautnahe Zeitzeugenberichte hören durfte. Als wir dann im Geschichtsunterricht genau diese Themen besprachen, kam mir die Idee: Diese „Zeitzeugen-Erfahrung“, die vor allem uns Jüngeren immer dieses „Wow, das war ja eine krasse Zeit!“-Gefühl verleiht, wollte ich auch meinen Mitschülerinnen und Mitschülern ermöglichen. So fragte ich meinen Verwandten, ob er bereit wäre, vor der Klasse von seinen Erfahrungen zu berichten und nach einem kurzen Zögern sagte er zu. „Vor der Klasse“ meint natürlich virtuell via Konferenz und dass es nur bei einem „kurzen Zögern“ blieb, hängt, wie ich glaube, maßgeblich mit dieser Virtualität zusammen. Sie senkte die Hürde für ein Zeitzeugen-Gespräch deutlich.

So begann unser Zeitzeuge an diesem Freitagmorgen von seinen Erlebnissen zu berichten. Ergänzend dazu war er bereit, der Klasse Auszüge aus seiner Stasi-Akte, die er vor einigen Jahren angefordert hatte, zu präsentieren. Dies gab uns in unserem Geschichtsunterricht die eindrucksvolle Möglichkeit, einen Zeitzeugenbericht mit einer historischen Quelle in Verbindung zu bringen. Mein Angehöriger arbeitete in einem Betrieb für Feuerfestkeramik in der Forschungsabteilung. In einer Produktionsabteilung dieses Betriebes kam es zu einer Havarie an einer westdeutschen Presse. Da er früher in dieser Abteilung gearbeitet hatte, wurde er von der Stasi vorgeladen und befragt. Seine einfache Erklärung für den Unfall: Durch Unachtsamkeit war damals wahrscheinlich ein Metallteil (z. B. eine Schraube) in das zu pressende Material und somit in die Presse gelangt, wodurch der Presskasten zerstört wurde. Diese Erklärung genügte der Stasi jedoch nicht. Aus der Akte geht ein anderer Erklärungsversuch hervor: „Ihm wurde nochmals erläutert, daß sich imp.[erialistische] Konzerne für Forschungsergebnisse […] verstärkt interessieren.“. Doch bei dieser Richtung des Gespräches sollte es nicht bleiben: Das ursprünglich fachliche Gespräch über einen technischen Defekt entwickelte sich zunehmend zu einem Verhör über Mitarbeiter des Betriebes, also Kollegen des Zeitzeugen. „Als immer mehr Fragen zu Personen gestellt wurden, dachte ich nur: Vorsicht!“, meint er heute: „Ich merkte, dass es der Stasi eigentlich nur darum ging, einen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) für die Abteilung Forschung zu gewinnen.“ Schließlich kam die alles entscheidende Frage nach seiner Bereitschaft, über Personen Auskünfte zu erteilen, also schlicht für die Stasi zu spitzeln. Seine Antwort: „Das ist nicht mein Job.“!

Eine solche Antwort, noch dazu den Anglizismus „Job“, hatte der Stasi-Unterleutnant nicht erwartet. Er schoss in die Höhe und schrie los. Doch mein Verwandter blieb ruhig und gab den Verhörenden keinerlei Anlass zu weiterer Aggression; beispielsweise dadurch, dass er ohne zu zögern die obligatorische Schweigepflichtserklärung unterschrieb. So verabschiedete sich die Staatssicherheit mit einem: „Sie hören von uns.“.

Dass es bei dieser Verabschiedung blieb und nie wieder zu einem weiteren Kontakt mit der Stasi kam, ist bemerkenswert: „Ich hatte noch einige Jahre Angst, aber ich habe nie wieder etwas von der Stasi gehört.“, sagt er heute. Eine Begründung dafür – zumindest aus der Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit – liefert ein Dokument der Stasi-Akte. So heißt es in diesem „Abschlußbericht“: „[Es] wurde ersichtlich, daß der Kandidat erhebliche politische Unklarheiten hat“. Und weiter: „Er ging einer konkreten Verpflichtung aus dem Wege, was er jedoch nicht konkret begründen konnte. Aus diesem Grund hat der Verlauf keine Perspektive und es wird vorgeschlagen, die weitere Aufklärung einzustellen.“. Letztendlich war es wohl diese „politische“ Unreife, die ihm attestiert wurde und somit nicht mehr attraktiv für die Spitzelarbeit machte.

Zurück in den Geschichtsunterricht: Nach diesem Zeitzeugenbericht gab es für die Klasse die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Somit konnte ein richtiges Gespräch mit etlichen Wortmeldungen entstehen. Gelernt haben wir dabei alle: Meine Mitschülerinnen und Mitschüler vor allem fachlich, ich konnte meinen Verwandten besser kennenlernen und er konnte die Zeit nicht nur für sich noch einmal reflektieren, sondern seine Erfahrungen auch an die jüngere Generation weitergeben.

Dass das alles trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Homeschooling möglich war, ist bemerkenswert. Denn: Wer weiß, ob unser Zeitzeuge sich so spontan in der analogen Welt vor eine Klasse gestellt und von seinen Erlebnissen berichtet hätte. Somit können wir uns vielleicht auch aus einer sehr schwierigen Zeit etwas Optimismus mitnehmen.

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